Pauken – wozu? „Das Abitur erledigt sich von selbst“

Unter dem feinsinnig doppeldeutigen Titel: „Das Abitur erledigt sich von selbst“ geht der Philosoph und Buchautor Christoph Türcke mit unserem „neoliberalen Bildungswesen“ hart ins Gericht und beklagt in der Süddeutschen Zeitung vom 10. Februar 2016  unser immer seichter werdendes Bildungsniveau sowie die Inflationierung des Abiturs und damit dessen  E n t w e r t u n g.                            Mit „Soft Skills“  ( Lückendiktaten, Multiple-Choice-Lösungen … ) werden Schülern heute „Hard Skills“ wie Kopfrechnen,  Rechtschreiben und Vokabellernen etc. erspart.

Zitat: „…. Kompetenzmodellierer und Bildungspolitiker argumentieren wie Pianisten, die kaum mehr Klavier üben, weil es nicht auf Technik ankomme, sondern auf die Musik. Oder wie  Fußballtrainer, die das Kraft- und Konditionstraining abschaffen, um Zeit fürs Eigentliche zu gewinnen: das intelligente Zusammenspiel, die Hackentricks und Fallrückzieher.“…..

http://www.sueddeutsche.de/bildung/bildung-lehrer-raus-1.2855824

Siehe hierzu auch den Beitrag von Prof. Jochen Krautz: „Bildung ist mehr als Kompetenztraining“

https://www.oedp.de/fileadmin/user_upload/bundesverband/    aktuelles/oekologiepolitik/OekologiePolitik-168.pdf

 

 

2 Gedanken zu „Pauken – wozu? „Das Abitur erledigt sich von selbst“

  1. Nicht erst seit Aufkommen der Kompetenzmode, die nur ein erneuter Versuch ist, die Probleme der Gesamtschulen oder Gemeinschaftsschulen zu vertuschen, werden in Deutschland das Wissen und der Wissenserwerb verächtlich gemacht. Seit den sechziger, siebziger Jahren meint jeder Ignorant, sich über „Fachidioten“ erheben zu können, seither auch gilt es als fein, mit seinen Lücken in Mathematik oder Naturwissenschaften oder Geschichte zu kokettieren : „Das muss man doch nicht wissen, oder?“.
    Als in den neunziger Jahren in Vorbereitung der Verkürzung der Schulzeit in mehreren Wellen die Lehrpläne zusammengestrichen wurden und die Abiturprüfungsanforderungen herabgesetzt wurden, verkauft man diese Raubzüge als „Entrümpelung der Lehrpläne“.
    Ich will hier nicht im einzelnen ausführen, was damals so alles unter der Bezeichnung „Gerümpel“ aus den Lerninhalten verschwand; das würde zu weit führen, und im übrigen tut es weh, solche Lücken aufzuzählen. Man erlaube mir nur, dazu eine Anekdote von Ende der neunziger Jahren zu erzählen.
    Es war während einer Konferenz, an der Schulleiter von Gymnasien aus ganz Deutschland teilnahmen. Der Staatssekretär aus dem sächsischen Kultusministerium gab ein Statement zur Verkürzung der Lehrpläne ab. Dabei gebrauchte er das Wort „Entrümpelung“. Da konnte ich nicht länger an mir halten, ich fuhr auf und sagte dem Mann, dass ich in meiner Dienstzeit sicherlich Fehler gemacht habe, aber niemals, kein einziges Mal, hätte ich die Köpfe meiner Schüler mit Gerümpel angefüllt. Der Begriff „Entrümpelung“ sei ehrenrührig. Der Staatssekretär hielt inne, und dann bat er, seine Gedankenlosigkeit zu entschuldigen und versprach, diesen schmählichen Begriff nicht mehr zu gebrauchen. Chapeau! Niemals wieder habe ich einen so grundehrlichen, klugen Politiker getroffen.

    Im übrigen studieren heute viele Leute, die niemals Abitur gemacht haben. Einer meiner Kollegen hat sich vor Jahren einmal die Mühe gemacht, herauszufinden, wie viele Wege neben der Abiturprüfung es gebe, um zum Studium an einer deutschen Hochschule zugelassen zu werden. Er behauptete hinterher, nicht weniger als 72 solcher Wege gefunden zu haben…
    Mag sein, mag nicht sein, aber dass es viele solcher Wege gibt, ist unstrittig. Und diese Fleißarbeit stammte aus einer Zeit, als noch nicht darüber nachgedacht wurde, auch den Migranten einen Weg an die Hochschulen zu ebnen, der an der lästigen Abiturprüfung vorbeiführt.

  2. Hier sei der Leserbrief von Frau Dr. Elke Möller-Nehring, Psychotherapeutin für Kinder und Jugendliche, an die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG wiedergegeben:

    Nötig sind echte Pädagogen

    Die Veränderungen im Bildungswesen werden von Eltern und auch vielen Lehrern seit Langem beobachtet und beklagt: Beim selbst gesteuerten Lernen fehlen häufig kluger Aufbau, Systematik, vertieftes Verstehen, geduldiges Üben. Das überfordert und entmutigt viele Schüler, gleichzeitig führt es zu einer inhaltlichen Verflachung. Eltern müssen als Nachhilfelehrer die soliden Grundlagen zuhause legen und mit den Kindern üben. Wo dies nicht möglich ist, scheitern viele Schüler und bekommen oftmals psychiatrische Diagnosen.

    Es ist interessant, dass Christoph Türke diese Veränderungen ganz klar benennt: Sie sind die Folge neoliberaler Ideologien, wie sie in der Wirtschaft schon lange Einzug gehalten haben. Schon dort sind sie nicht am Menschen und am Gemeinwohl orientiert, umso weniger in Schulen. Es geht ja auch um andere Ziele:den Markt, die Macht und Ähnliches. Nicht darum, dass Kinder eine umfassende Bildung – zu der auch Persönlichkeitsbildung gehört – erhalten, um zu selbständig denkenden, verantwortungsvollen Mitmenschen heranzuwachsen.

    Hierfür brauchen die Kinder echte Pädagogen, die mit ihrem Wissen, mit ihrem Herzen und ihrer Persönlichkeit einen Klassenunterricht führen und gestalten. Denn im Klassenunterricht kann der Lehrer den Stoff mit den Kindern in einem lebendigen Wechselspiel gemeinsam erarbeiten. Dabei weiß er, wohin er mit den Kindern stofflich will, verfolgt einen systematischen Aufbau und kann je nach Unterrichtsgegenstand und – fortgang vielfältige Unterrichtsformen einsetzen. Im geführten Klassenunterricht kann er helfen, dass aus den Kindern eine Gemeinschaft wird, in der jeder seine Fähigkeiten einbringen kann und die Kinder aufeinander bezogen werden; und in der der Einzelne Mut schöpft, sich auch schwierigen Aufgaben zu stellen. Das alles geht weit über die von Bildungsreformern geforderten Softkills hinaus, die sich nur auf einer solch soliden Basis entwickeln können. Und das muss in der Lehrerausbildung wieder gelehrt werden.

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